Hamburger Abendblatt on 28.08.2023
Marcus Stäbler
(English translation below)
Ein Konzert, aus dem man wie aus einer Trance erwacht
Die multimediale Performance „Rolling Stone“ des Ensembles Graindelavoix entfaltete in der Elbphilharmonie eine ungeheure Klangwucht.
Hamburg. Menschen, die in eine Höhle hinabsteigen. Ernste Blicke in die Kamera. Stumme Gebete auf den Lippen. Gesten der Bekreuzigung. Und immer wieder eine ältere Frau, die andächtig ihre Hände ans Gestein legt, einzelne Felsbröckchen vom Boden aufklaubt, mit geschlossenen Augen auf ihrer Kleidung verreibt.
Mit diesen bewegten Bildern, projiziert auf einen durchscheinenden Vorhang, beginnt der Abend im Großen Saal der Elbphilharmonie, in schummriges Licht getaucht. Ein Dokumentarfilm, in Schwarz-Weiß, begleitet Gläubige beim Besuch ihrer Pilgerstätte; sie hoffen auf die heilende Kraft der heiligen Felsen.
Schwebende Sounds rahmen den Film. Erst ein einzelnes Horn. Danach ein Zink. Und die E-Gitarre, mit lang gezogenen, sphärischen Glissandi.
Dann, endlich: menschliche Stimmen, Gesang. Eine Art Kammerchor. Das Wort „Kyrie“, strömt in den Raum. Am Beginn der Missa „Et ecce terrae motus“ von Antoine Brumel, eine Messe von dunkler Klangwucht, entstanden um 1500. Sie steht im Zentrum des Programms. In ihr hallt das biblische Erdbeben des Ostermorgens nach, das ausbricht, als ein Engel erscheint und den Fels vom Grab Jesu wegrollt.
„Rolling Stone“ heißt die multimediale Performance dann auch, die die Elbphilharmonie gemeinsam mit Kampnagel nach Hamburg geholt hat. Eine Produktion des belgischen Dirigenten und Musikforschers Björn Schmelzer. Mit seinem Ensemble Graindelavoix interpretiert er Vokalwerke der Renaissance – und nutzt dabei auch antihistorische Stilmittel, um die Menschen von heute zu erreichen. Der Gitarrist und Komponist Manuel Mota hat die Messe dafür mit zeitgenössischen Ideen und Techniken angereichert.
Die Vokalstimmen sind elektronisch verstärkt. Und zwar so gut, dass der aufregende Klang von Graindelavoix noch weiter angeschärft wird: Die Ornamente der Messe treten plastisch hervor, erinnern manchmal an die Verzierungen eines Muezzins. Und das helle, mitunter fast grelle Timbre der Oberstimmen fräst sich glühend ins Trommelfell. Man möchte den Vorhang auf der Bühne wegreißen, weil er nicht passt zur emotionalen Nähe, zum sehr direkten Sound.
Aber natürlich ist die Verschleierung Teil des Konzepts, ebenso wie das dezente Lichtdesign. Erst am Beginn des Credo rupft eine Sopranistin den Vorhang ab, lässt ihn zu Boden fallen. Gibt den Blick frei auf weitere sieben Sängerinnen und Sänger und fünf Instrumentalisten, alle in Schwarz, die in einem nach vorne offenen Kreis auf der Bühne stehen und sitzen.
Vor ihnen Björn Schmelzer, der sein Ensemble mit Ganzkörpereinsatz dirigiert und animiert. Er wippt in den Knien, kippt vor und zurück, fordert höchste Intensität. Auch hier wird das Konzert zur Performance und vermittelt eine ganz andere Energie als die meisten Annäherungen an die „Alte Musik“. Die Erschütterung des Bebens ist allgegenwärtig; die Bitte „Miserere nobis“, „Erbarm Dich unser“ bekommt eine besondere Dringlichkeit. Das erinnert an die flehentlichen Blicke aus dem Dokumentarfilm.
In so einer Interpretation wirkt die Musik zeitlos und nicht über 500 Jahre alt, sie lässt einen nie in Ruhe. Das ist stark, manchmal aber auch anstrengend, auf Dauer fast ein bisschen viel. Aber die Aufführung entwickelt einen unglaublichen Sog. Als die Messe endet, mit einem überraschenden Effekt, fühlt es sich an, als hätte einen jemand aus einer tiefen Trance aufgeweckt.
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A concert from which you wake up as if from a trance
The multimedia performance "Rolling Stone" by the Graindelavoix ensemble unfolded an incredible sound in the Elbphilharmonie.
Hamburg. People descending into a cave. Serious looks at the camera. Silent prayers on their lips. gestures of crucifixion. And again and again an older woman who devoutly puts her hands on the rock, picks up individual rocks from the ground, rubs them on her clothes with her eyes closed. With these moving images, projected onto a translucent curtain, the evening begins in the Great Hall of the Elbphilharmonie, bathed in dim light. A documentary film, in black and white, accompanies believers visiting their pilgrimage site; they hope for the healing power of the sacred rocks. Floating sounds frame the film. Just a single horn. Then a cornetto. And the electric guitar, with long, spherical glissandi. Then, finally: human voices, singing. A kind of chamber choir. The word "Kyrie" floods the room. The beginning of the Missa "Et ecce terrae motus" by Antoine Brumel, a mass with a dark sound, composed around 1500. It is the focus of the program. It resonates with the Biblical earthquake of Easter morning, which erupts when an angel appears and rolls the rock away from Jesus' tomb. “Rolling Stone” is also the name of the multimedia performance that the Elbphilharmonie brought to Hamburg together with Kampnagel. A production by the Belgian conductor and music researcher Björn Schmelzer. With his ensemble Graindelavoix he interprets vocal works of the Renaissance - and also uses anti-historical stylistic devices to reach the people of today. The guitarist and composer Manuel Mota has enriched the mass with contemporary ideas and techniques.The vocal parts are amplified. And so well that the exciting sound of Graindelavoix is sharpened even further: the ornaments of the mass stand out vividly, sometimes reminiscent of the ornaments of a muezzin. And the bright, sometimes almost glaring timbre of the upper voices burns into the eardrum. You want to tear away the curtain on stage because it doesn't go with the emotional closeness and the very direct sound. But of course the concealment is part of the concept, as is the subtle lighting design.
Only at the beginning of the Credo does a soprano pluck the curtain and let it fall to the floor. Reveals a view of a further seven singers and five instrumentalists, all in black, standing and seated on stage in an open-topped circle. In front of them is Björn Schmelzer, who conducts and animates his ensemble with full body effort. He rocks on his knees, tilts back and forth, demands the highest level of intensity. Here, too, the concert becomes a performance and conveys a completely different energy than most approaches to “early music”. The shaking of the earthquake is omnipresent; the request "Miserere nobis", "Have mercy on us" takes on a special urgency. This is reminiscent of the pleading looks from the documentary. In such an interpretation, the music seems timeless and not more than 500 years old, it never leaves you alone. It's strong, but sometimes draining, in the long run it's almost a bit overwhelming. But the performance develops an incredible pull. When the mass ends, with surprising effect, it feels like someone has woken you up from a deep trance.