Our new Brumel recording is barely available, yet first reviews are already there, predicating it (comme d'habitude) with the classical (read: predictable) contradictions: "interesting", "spectacular", "new-contextualising", "extravagant" as well as "disturbing", "irritating" and "anachronistic"…
Whatever this means, at least it suggests you should check out the album as soon as possible!
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„Und siehe, es geschah ein großes Erdbeben. Denn ein Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat hinzu und wälzte den Stein weg und setzte sich darauf“. So beginnt bei Matthäus im 28. Kapitel seines Evangeliums die Erzählung von der Auferstehung Christi. Das Erdbeben, das durch das Wegwälzen des Steins von Christi Grab zustande kommt, hat gelegentlich Komponisten von Messen zu entsprechender musikalischer Gestaltung der fraglichen Stelle im „Credo“ veranlasst – so etwa Anton Bruckner in seiner Messe d-Moll. Nur ein einziger Komponist der Musikgeschichte jedoch hat eine komplette Messvertonung strukturell ganz und gar dem Erdbeben gewidmet und dieses dadurch auf eindrucksvolle Weise zum sinnlichen Erlebnis gemacht: Antoine Brumel (ca. 1460-1512/13), der seine zwölfstimmige Partitur so gekonnt „minimalistisch“ hinsichtlich ihrer motivischen Faktur anlegte, dass das wogende Schwanken der Musik förmlich Schwindel erregt. Und die Deutung dieses Phänomens als auf das biblische Erdbeben bezogen ist keine Spekulation, denn Brumel verwendet die ersten sieben Töne der Oster-Antiphon „Et ecce terrae motus“ als motivisches Material für seine Komposition. Von Brumels Messe existieren seit längerer Zeit einige repräsentative Aufnahmen. Zu nennen ist besonders die mit zwölf Sängerinnen und Sängern solistisch besetzte Version des Huelgas Ensembles von 1990. Paul Van Nevel setzt, wie in der historisierenden Wiedergabe von Vokalmusik der Renaissance üblich, auf makellose Reinheit des Ensembleklangs – mit bis heute faszinierendem Ergebnis.
Das ist nicht der Ansatz von Björn Schmelzer, der nun mit Graindelavoix eine Neueinspielung vorlegt. Schmelzer besetzt acht Stimmen vokal und vier instrumental, was nicht unüblich ist. Allein im Vokalsatz (innerhalb dessen er die Stimmen gelegentlich von einem Part in den anderen springen lässt) ist aber nicht die Verschmelzung der Stimmen sein Ziel, sondern er lässt den Gesamtklang immer wieder durch bewusst gesetzte „Extravaganzen“ (Ornamente, spezielle Effekte der Stimmgebung etc.) stören. Des Weiteren besetzt Schmelzer die übrigen vier Partien bewusst nicht „historisierend“, indem er neben einem Zink zwei Naturhörner und einen Serpent zum Einsatz bringt. Außerdem „stören“ irritierende E-Gitarren-Klänge von Manuel Mota einleitend wie auch simultan immer wieder die eigentliche Darbietung der Musik Brumels. Erklärungen zu diesem speziellen Konzept bietet das Beiheft in Gestalt eines ausführlichen Interviews mit Björn Schmelzer. Die spektakuläre Neu-Kontextualisierung der alten Musik lässt sich freilich damit begründen, dass das Werk schon bei seiner Entstehung selbst anachronistisch war. Ein interessantes Experiment – aber im Falle einer Erstbegegnung mit der Musik würde der Autor persönlich doch zumindest eine parallele Beschäftigung mit der genannten Aufnahme Paul Van Nevels empfehlen.
Michael Wersin, 10.02.2024